Wir sind die 0,01 Prozent: Die Second-Screen-Twitter-Blase
Erschienen am 2.9.2013
Liebes Internet, wir müssen rechnen. Es gibt 61,8 Millionen Wahlberechtigte in Deutschland. Das #tvduell soll, gemessen mit den okkulten Methoden der Fernsehforschung, lockere 17,64 Millionen Zuschauer gehabt haben. Schaut man sich die Nachrichtenseiten und die Livesendungen an, gab es vor allem ein beherrschendes Thema: Nicht die Finanzkrise, nicht die NSA-Affäre, sondern Twitter.
Wie ist die Stimmung „im Netz“? Was sagt irgendjemand „auf Twitter“? Wie schon bei den Olympischen Spielen war Twitter allgegenwärtig. Und das ist ja auch eine großartige Plattform, gerade für Journalisten. Information! Selbstdarstellung! Und, nicht lachen, Recherche! Über Twitter lassen sich Leute am anderen Ende der Welt finden, die gerade Zeugen eines Ereignisses geworden sind. Was für ein mächtiges Tool.
Nun jubelt Twitter selbst, dass es zum #tvduell rund 173.000 Tweets gab. Aber was heißt das schon? Denn, soweit ich weiß, will Twitter nicht verraten, wie viele Nutzer es überhaupt in Deutschland gibt. Sind es eine Million? Und wie viele stecken hinter den 173.000 Tweets? Nur mal angenommen, ein paar eifrige Nutzer haben das #tvduell kommentiert und alle paar Minuten einen Tweet geschrieben. Vielleicht 25 in 90 Minuten. Dann reichen schon rund 7000 Twitter-Nutzer aus, um auf 173.000 zu kommen.
Das wären dann 0,01 Prozent der Wahlberechtigten. Und wer sind diese 7000 überhaupt — sind das nicht zu einem guten Teil Journalisten, Politiker und Werber? Blogger aus Berlin? Es sind Menschen, die dieselben Tools nutzen, eine gemeinsame Sprache sprechen, bestimmte Witze verstehen. Jedenfalls sind sie nicht „das Netz“. (Warum wohl lesen Journalisten lieber Tweets als YouTube-Kommentare im Fernsehen vor?)
Ich finde es nicht weiter schlimm, dass nun über den Twitter-Account von Merkels Halskette geschrieben wird (übrigens: rund 6000 Follower). Das haben sich Kandidaten und Moderatoren selbst zuzuschreiben. Was aber nicht schaden kann, ist ein bewussterer Umgang mit Twitter. Dazu braucht es Nutzerzahlen und einen kritischen Blick auf Retweet-Kartelle, Fav-Zirkel und Follower-Supernodes. Das wäre mal ein schönes Stück Datenjournalismus.
David Carr schreibt in der „New York Times“ gerade über eine politische Filterblase.
In a study he did while at the Shorenstein Center at Harvard last spring, Peter Hamby, a political reporter at CNN, writes about the extent to which reporters in the bubble — on the bus, on the plane, at the rope line — have become “one giant, tweeting blob.”
Nochmal: Das muss nicht schlecht sein, ganz im Gegenteil. Nicht zuletzt wird der Medienbetrieb dadurch ein Stück weit transparenter und durchlässiger. Nur darf man 0,01 Prozent nicht für 1 Prozent halten.
Update, 18.48 Uhr: Torsten Mueller vom Twitter-Analysetool tame.it schreibt, dass seine Firma 36.000 unterschiedliche Twitter-Nutzer in der Debatte ausgemacht hat: „Sind 0,058 % – ändert aber nix.“ Und es sagt auch noch nicht, wer davon nun besonders einflussreich war.
Update, 4. September: Dieser Blogeintrag hat es in die gedruckte „SZ“ geschafft, wo er nacherzählt wird, inklusive Zahlen-Update und Link auf die „New York Times“. Leider wird nicht so ganz deutlich, das beides hier direkt aus dem Blogeintrag stammt.