„Sie nennen es Leben: Was Jugendliche im Netz wirklich machen

Erschienen am 28.10.2011

Hannah Pilarczyk räumt auf mit dem Mythos Digital Natives. Schließlich gibt es die Generation Internet nur in den Köpfen jener Autoren, die sie beschwören — mal zum Guten, wenn Twitter-Revolutionen ausgerufen werden oder von weltweit vernetzter Intelligenz geschwärmt wird; mal zum Schlechten, wenn der Untergang des Abendlandes mal wieder in greifbare Nähe gewünscht wird oder die „Bild“-Zeitung von einer durch Internet-Pornos verrohten Jugend träumt, die „immer früher, immer häufiger, immer extremer“ Sex haben. Obwohl das Gegenteil der Fall ist.

Hannah Pilarczyk. Sie nennen es Leben

Was das Internet mit Kindern und Jugendlichen alles anstellt, haben Forscher längst untersucht. Diese Erkenntnisse stellt Hannah den Wunschträumen einer digitalen Generation von lauter höchst vernetzten und engagierten Produzenten entgegen. Das Internet hält diese Generation nicht zusammen, es zementiert vielmehr die bestehenden sozialen Unterschiede.

Wer Kapital (soziales, kulturelles, ökonomisches) hat, dem wird gegeben. Bildungschancen werden noch ungerechter verteilt als ohnehin schon: „Um zu verstehen, was Jugendliche im Internet erleben, muss man ihre soziale Stellung kennen.“ Für ihr Buch hat sie nicht nur die Studie „EU Kids Online“ herangezogen, sondern außerdem selbst Interviews mit Jugendlichen zu ihrem Online-Nutzungsverhalten geführt.

Das klingt erstmal selbstverständlich: Nachsehen, wie es wirklich ist. Nicht nur annehmen und auf das Bauchgefühl oder Erzählungen aus dem Freundeskreis vertrauen. Ein Blick ins Sachbuchregal, Ecke Internet-Versteher, zeigt, dass das leider nicht die Regel ist. In „Sie nennen es Leben“ nimmt sich Hannah mit großer Gelassenheit die gerade gängigen Klischees über die Heranwachsenden vor und berichtet, was die Wissenschaft stattdessen herausgefunden hat.

Was Jugendliche im Netz nun machen? Sie nutzen Freiräume, die ihnen jenseits des Computers seit Jahrzehnten weggenommen werden. Sie eignen sich soziale Räume im Internet an, ohne Aufsicht der Erwachsenen, um einem zunehmend verregelten Alltag zu entkommen. Dabei wissen sie, so die für Eltern tröstliche Botschaft, meist ganz gut, was sie tun, und was das für Auswirkungen auf sie und andere hat.

tl;dr

Die Generation Internet gibt es nicht, die ganzen negativen Folgen der Online-Erfahrungen sind größtenteils grotesk übertrieben, und eine Alterskohorte wird nur wegen DSL-Zugängen nicht automatisch zu solidarischen Digitalbürgern. Einige sehen im Internet das Aufziehen einer besseren Welt, andere Sodom und Gomorra. Sie alle sollten dieses Buch lesen. Und genauer hinsehen.

Disclosure: Hannah sitzt im Großraumbüro in Sichtweite. Manchmal gibt sie mir Kaffee aus.