Thesen zur Piratenpartei

Erschienen am 1.4.2012

Mit Christopher Lauer und Manuel Höferlin war ich zu Gast im „Online Talk“ auf DRadio Wissen, um über die „Tyrannei der Massen“ zu diskutieren. Die von Vera Linß moderierte Sendung steht im Netz – und hier sind einige meiner Gedanken noch einmal etwas ausgeführt:

1. Die Piratenpartei hat im Vergleich zu den etablierten Parteien ein anderes Menschenbild und eine andere Vorstellung von Politik. Eine Partei ist in diesem Modell nicht dazu da, die vorpolitischen Meinungen der Bürger zu sammeln und stellvertretend in die parlamentarische Demokratie zu übersetzen. Stattdessen gehen die Piraten von qualifizierten Bürgern aus, die sich direkt in die politischen Prozesse einmischen. Die Piratenpartei ist derzeit mehr Plattform als Programm, mehr Prozess als Position.

2. Wegen dieses gänzlich anderen Politikstils stören ihre Vertreter die streng ritualisierten Talkshows im Fernsehen und bieten Angriffsfläche, die routiniertere Politiker ausnutzen. Derzeit verfestigen sich diese Verhaltensmuster in Bezug auf Kernthemen der etablierten Parteien wie soziale Gerechtigkeit oder Wirtschaft: Die Piraten haben (noch) keine Position, die etablierten Parteien finden das unmöglich bis unverantwortlich und präsentieren Zahlen und Lösungen zum Hype der Woche.

3. Während sich die Piratenpartei noch selbst in Frage stellt, zweifelt und basisdemokratische Prozesse zulässt, wird Beteiligung in den etablierten Parteien meist nur in abgesteckten Rahmen zugelassen, wenn nicht sogar als Störfaktor wahrgenommen. Angesichts erster Wahlerfolge der Piratenpartei verweisen Vertreter der etablierten Parteien nun auf Möglichkeiten der Beteiligung, die es in der eigenen Partei schon länger gibt als die Piratenpartei überhaupt existiert. (Internet-Expertise ist natürlich auch vorhanden.) Interessant an dieser Trotzreaktion ist, dass Mitgliederschwund und Politikverdrossenheit trotzdem gewachsen sind und erst die Piratenpartei „neuen Schwung“ (Andrea Nahles, SPD) in die Politik bringt. Es geht wohl auch um das Gefühl, in einer Partei ernst genommen zu werden und etwas bewirken zu können.

4. Wenn nun FDP-General Patrick Döring von der „Tyrannei der Massen“ spricht und SPD-Politiker Björn Böhning die Piratenpartei für einen „Beitrag zu weniger Demokratie“ hält, dann wirkt das vor allem unsouverän. (Es fehlt nur noch ein Parteienschutzrecht, mit dem die etablierten Parteien den Status quo sichern – wenn dann Piraten mit neun Prozent in den Bundestag einziehen sollten, werden neue Stühle aufgestellt, die anderen Parteien müssten keine Sitze abgeben.)

5. Viele junge Menschen haben erste Erfahrungen mit Demokratie gemacht, zum Beispiel bei der Wahl von Schülervertretungen. Eine gute Ausgangslage. Dennoch nehmen sie die etablierten Parteien als Machtapparate wahr, in denen es zu wenig um Sachthemen und zu viel um Sachzwänge geht und sie selbst keinen unmittelbaren Einfluss haben können – und hier präsentieren sich die Piraten als Alternative. Sie kritisieren den Fraktionszwang und würden am liebsten die Positionen aller Parlamentarier laufend auf LiquidFeedback abfragen. Das kollidiert zwangsläufig mit einer politischen Kultur, die den Kompromiss pflegt und zur Durchsetzung politischer Projekte Zugeständnisse macht, die sachlich nicht begründbar sind.

6. Die Abwehrreflexe der etablierten Parteien werden an Schärfe zunehmen. Wenn FDP-General Patrick Döring von der „Tyrannei der Massen“ spricht, der SPD-Politiker Björn Böhning von einem „Beitrag zu weniger Demokratie“ und CSU-Funktionärin Dorothee Bär den Piraten „realpolitische Ahnungslosigkeit“ attestiert, dann ist das erst der Anfang. Der andere Politikstil der Piraten, der offenbar gerade Anhänger bei den bisherigen Nicht- und Neuwählern findet, bereitet den etablierten Parteien Sorge – es geht schließlich nicht nur um mediale Aufmerksamkeit sondern um Macht, Arbeitsplätze und 450 Millionen Euro (Parteienfinanzierung, Spenden, Mitgliedsbeiträge, Zahlen von 2008). In den vergangenen 40 Jahren haben es nur die Grünen und die Linkspartei zusätzlich in den Bundestag neben Union, SPD und FDP geschafft.

7. Piraten sind ungeduldig. Während in anderen Parteien das Politikmachen ein Prozess ist, der viel über persönliche Kontakte und regelmäßige Treffen stattfindet und Zeit in Anspruch nimmt, sind viele junge Menschen ein anderes Tempo gewohnt – in ihrer Arbeitswelt und in ihrem Privatleben. Sie wollen dieses Tempo zumindest teilweise auf die Politik übertragen. 76 Prozent der Menschen über 10 sind im Internet (Zahlen von 2011). Sie wollen die ihnen bekannten Tools, die technisch verfügbar sind, für die Politik einsetzen, um mehr Menschen als bisher an Politik zu beteiligen. Das kommt dann dem, was sie in der Schule über Diskurs und Demokratie gelernt haben, näher als Ochsentour und Hinterzimmerverhandlungen. Die etablierten Parteien haben Praktikten entwickelt, als Transparenz schwerer herzustellen war als jetzt mit dem Internet.

8. Die Piratenpartei ist keine klassische Protestpartei. Eine klassische Protestpartei hat radikalere Positionen, bis hin zur Ablehnung des politischen Systems. Den Piraten fehlen allerdings bisher sogar in vielen Politikfeldern Standpunkte. Wo es welche gibt, existieren oftmals Schnittmengen zu etablierten Parteien. Einzelne Positionen mögen als radikal gelten, in ihrer Gesamtheit ist die Piratenpartei eine moderate Partei. Sie wird nicht aus Protest gegen Politik gewählt, sondern als Alternative zu der Form, in der Parteien derzeit Politik machen.

(Erste, lose Sammlung.)