Bleierne Nachrichtenstarre
Erschienen am 1.6.2010
Am Montag um 14 Uhr erklärt Bundespräsident Horst Köhler seinen Rücktritt — was für eine Nachricht! Die Nachrichtenagentur dpa feuert eine Blitzmeldung ab, Rundfunk und Onlinedienste vibrieren. In den Zeitungsredaktionen sind noch einige Stunden Zeit, bis die Dienstags-Ausgabe in den Druck muss. Was wird den Lesern am nächsten Morgen angeboten, nachdem die Nachricht schon den letzten Winkel der Republik erreicht hat? Nachdem die Kanzlerin im ARD/ZDF-Brennpunkt die Menschen zu beruhigen versuchte? Los geht’s mit Tagesspiegel, Frankfurter Allgemeine und Süddeutsche:
Äh, ja. Die Zielgruppe verfügt offenbar weder über Fernseher noch Radio, geschweige denn über dieses neumodische Internet. Ausgerechnet die Zeitungs-Dickschiffe verharren in bleierner Nachrichtenstarre! Das nackte Faktum als Aufmacher, 15 Stunden später? News von gestern? Solange sich die Abonnenten so etwas gefallen lassen und für das Internet-Ausdrucken Geld herausrücken: Bitte. Ich glaube aber nicht, dass Zeitungen sich damit heute noch einen Gefallen tun. Stattdessen sehen sie ziemlich alt aus, selbst wenn sich im Innenteil Analysen und Hintergründe in preiswürdiger Qualität verstecken.
Es geht auch anders. Über die bloße Meldung hinaus wagen sich Financial Times Deutschland, Frankfurter Rundschau und Handelsblatt schon mit dem Aufmacher an eine Einordnung heran:
Immerhin. Dann wäre da zum Glück noch die Merkel-Fraktion: Die Redaktionen, die schon mit dem Aufmacher über die bloße Nachricht hinaus weiterdenken und den Rücktritt in den politischen Kontext einordnen. Die ihren Lesern einen Mehrwert anbieten. Zum Beispiel Berliner Zeitung, Berliner Morgenpost, Hamburger Abendblatt und Spiegel Online:
Gewohnt überdreht natürlich die taz, die gleich die Regierung im Entengang abtreten lässt:
Was sich eine Zeitung eben erlauben kann, wenn sie nicht den Anspruch verfolgt, ihren Lesern möglichst nüchtern die Nachrichten von gestern aufzufächern. Vollkommen ratlos lässt mich hingegen die Welt zurück, die mit einem Köhler-Zitat aufmacht:
Es war ihm also eine Ehre — meine Güte, er war Bundespräsident, was soll er auch sonst sagen. Andere Zeitungen schreiben von Fahnenflucht, vom tragischen Präsidenten, hier wird mal eben das Potential der Geschichte verspielt. Oder ich verstehe den Witz nicht.